Vor einiger Zeit erfüllte ich mir einen lang gehegten Wunsch: eine hochwertige Armband-Uhr. Nach einigen Jahren in der Selbständigkeit hatte ich mich dazu entschlossen, mich zu meinem ersten kleinen Firmenjubiläum für den oft sehr herausfordernden Weg als Unternehmer mit diesem Schmuckstück zu belohnen.
Bereits als Kind hatte mich eine solche Uhr am Handgelenk meines Vaters nachhaltig beeindruckt: Der Sekundenzeiger schien nicht wie üblich zu ticken, sondern elegant und schwerelos über das Zifferblatt zu gleiten. So etwas wollte ich auch! Als ich dann allerdings erfuhr, wieviel diese Uhr gekostet hatte, wusste ich: Das wird ein langer Weg. Mein Vater hat Zeit seines Lebens viel und hart gearbeitet, um sich ein solches Exemplar zu leisten. Umso stolzer war ich nun, es ihm nach ebenfalls arbeitsreichen Jahren, gleich tun zu können.
Wenige Tage nach dem Kauf traf ich mich mit zwei Freunden – und natürlich fiel ihnen die neue Uhr an meinem Handgelenk direkt auf. Es dauerte natürlich nicht lange bis die Frage kam:
„Und, was hat das Schmuckstück gekostet?“ Ungläubige Augen, Fassungslosigkeit, Staunen.„Für eine Uhr? Ist die aus purem Gold?“
„Nein, aus Edelstahl. Aber: Sie wird von Hand aufgezogen und braucht deshalb keine Batterie. Und sie geht präzise auf die Zehntelsekunde genau …“
„Naja- es bleibt eine Uhr. Sie soll die Zeit anzeigen und genau das macht sie auch - aber auch nicht besser als zum Beispiel jede Discounter-Uhr." Oder mein Smartphone. Das läuft sogar auf die Tausendstelsekunde genau und zeigt parallel die Uhrzeiten aus New York, Tokio und Bali. Und Fun Fact: Ich kann zusätzlich damit telefonieren, fotografieren und chatten...und der Materialwert deiner Uhr - Edelstahl - ist nun auch nicht der Rede wert…"
Ein unangenehmes Gefühl entstand in mir: Hatte ich einen Fehler gemacht? Stand das, was ich bekommen hatte, in keinem Verhältnis zu dem von mir bezahlten Preis? Wie konnte ich meinen Freunden verständlich machen, warum ich bereit gewesen war für das bloße Anzeigen der Uhrzeit so viel Geld auszugeben?
Die vorgebrachten Argumente konnten meine Freunde nicht überzeugen. Wir wechselten daraufhin das Thema. In der Nacht aber kamen meine Gedanken darauf zurück, und ich lag noch lange wach.
Einige Tage später bereitete ich mich auf einen unserer neuen Workshops zum Thema Storytelling vor. Dabei fielen mir meine Notizen zu einer Studie zweier US-amerikanischer Journalisten in die Hände, die mich an die zurückliegende Unterhaltung mit meinen Freunden denken lies:
Die Erkenntnis der Autoren: Aus unbedeutenden Gegenständen werden durch Storytelling bedeutsame Objekte. Oder in Zahlen ausgedrückt:
In 2012 starteten der Schriftsteller und Sprachwissenschaftler Joshua Glenn und der Journalist und Autor Rob Walker ein gemeinsames Experiment. Sie erwarben 100 Gegenstände in Gebrauchtwarenläden und auf Flohmärkten für insgesamt 128,74$. Anschließend baten sie 100 Autoren, jeweils zu einem der Objekte eine fiktive Geschichte zu schreiben – ohne Vorgaben zu Thema, Länge oder Inhalt. Ausgestattet mit diesen Geschichten, stellten sie die einzelnen Objekte samt Fotos bei Ebay ein. Anstelle der üblichen Produktbeschreibung fügten sie jedoch die Geschichten der Autoren hinzu, wohlgemerkt: explizit mit dem Hinweis versehen, dass die erzählten Geschichten frei erfunden waren! (Ansonsten wäre es leicht gewesen, zu argumentieren, dass potenzielle Käufer aufgrund der vermeintlichen Historie des Objekts tatsächlich eine Wertsteigerung hätten vermuten können.) Einer der Gegenstände war dieses Spielzeug-Hotdog.
© https://significantobjects.com
Über Geschmack lässt sich bekanntlich nicht streiten, aber dass es sich bei diesem Objekt nicht um die Ausgeburt der Schönheit handelt, leuchtet wohl jedem ein. Es mag entsprechend wenig verblüffen, dass eben dieses Objekt den zweit-geringsten wirtschaftlichen Erfolg erzielte: Für nur 3,58$ wechselte dieses Unikum, frisch garniert mit seiner frei erfundenen Geschichte, den Besitzer. So weit, so unspektakulär… oder? Nun, bei einem Einkaufspreis von nur 0,12$ ist das eine Wertsteigerung um schlappe 2.883%.
Nur ein Zufall? Keineswegs! Es handelt sich nämlich nicht um einen Einzelfall, wie der weitere Verlauf des Experiments bewies: Alle 100 von Geschichten begleiteten Objekte wurden zu weit über dem jeweiligen Einkaufspreis liegenden Beträgen versteigert. Gewinnbringendstes Objekt war diese russische Figur, die für 3,00$ gekauft und für sagenhafte 193,50$ verkauft wurde.
© https://significantobjects.com
In den folgenden Monaten wiederholten sie ihre Significant Objects Study zwei weitere Male mit wechselnden Gegenständen und Autoren – das Ergebnis aber blieb das Gleiche. Joshua Glenn und Rob Walker konnten anhand von insgesamt 200 verkauften Objekten nachweisen, dass eine signifikante Wertsteigerung durch den gezielten Einsatz von Storytelling möglich ist.
Und doch bleibt die Frage: Es sind doch „nur“ Geschichten – wie kann so etwas funktionieren? Die Antwort liegt in jedem von uns selbst.
Wir alle lieben Geschichten. Tatsächlich ist Storytelling, also das Erzählen von Geschichten, eine der ältesten Formen der Menschheit, Wissen und Erfahrungen zu vermitteln und von Generation zu Generation weiterzugeben. Denn Geschichten setzen genau dort an, wie wir denken, fühlen, entscheiden und handeln: Sie rufen Bilder in unseren Köpfen hervor, sie erzeugen Emotionen, lassen uns die Welt aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten und uns im Geiste spannende, bewegende Momente erleben. Dabei unterscheidet unser Gehirn nicht, ob wir die erzählte Situation gerade selbst erfahren oder sie von jemandem erzählt bekommen.
Wenn es also zu einem Objekt eine gute Geschichte gibt, wird dieses aus der anonymen Masse bedeutungsloser Gegenstände hervorgehoben. Plötzlich erhält es einen Platz in der Welt, eine Relevanz, einen Bezugsrahmen, in welchem es eine bedeutungsvolle Rolle spielt.
Kurz: Das Objekt erhält einen Wert. Und dieser liegt jenseits des Materialwerts oder der Funktionalität des Gegenstandes. Werte entstehen allein im unserem Kopf. Sie sind subjektiv und eine Projektion von individuellen, mit dem Gegenstand verknüpften Vorstellung, Phantasien und Wünschen.
Nachdem ich meine Notizen durchgearbeitet hatte, wurde mir wieder klar, warum meine Freunde mich nicht verstanden hatten. Alles was sie gesehen hatten, war ein Gegenstand, der die Zeit anzeigte.
Mir aber zeigte diese Uhr etwas anderes: Sie erzählte mir eine Geschichte. Und: Sie erzählte mir einen Teil meiner Geschichte.
Die Erinnerung an meine Kindheit, als ich sie am Handgelenk meines Vaters sah. Ein Synonym für die vielen Stunden harter Arbeit und investierter Zeit, um genügend Geld für den Kauf zu sparen. Ein Symbol für das erfolgreiche Erreichen beruflicher Ziele. Und schließlich die Projektion meines Wunsches, sie eines Tages, wenn der richtige Zeitpunkt dafür gekommen ist, sie dann als Vater an mein Kind weitergeben zu können.
Mein Vater ist übrigens eher ein bescheidener Mann, weshalb er sich schon nach kurzer Zeit wieder von seiner Luxus-Uhr trennte. Dafür kaufte er sich ein Modell, das er dann über viele Jahre täglich trug: den damals ersten analogen Quartz Chronograph, eine Seiko 7A38. Dieses Modell wird heute längst nicht mehr produziert und ist für einen Preis von – wenn überhaupt – 40 Euro zu bekommen. Für ihn bedeutet diese Uhr aber soviel, dass er sie mir bis heute nicht anvertraut hat.
Aber vielleicht denkt er so wie ich: Eines Tages, wenn der richtige Zeitpunkt dafür gekommen ist…
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